Eine übergewichtige Person steht auf einer Waage

Die Debatte um Adipositas: Eine Frage der Ernährung?

In der Debatte zeigen wir verschiedene Perspektiven auf Adipositas aus der Ernährungsszene: Stimmen aus Verbänden, Krankenkassen oder Selbsthilfeinitiativen oder der Forschung. Die Statements beziehen sich auf das jeweilige Thema in der Rubrik Forschungsstand. Redaktionen dürfen die Texte verwenden, wenn sie den Ernährungsradar als Quelle nennen.


Inhalt


Erhebliche Versorgungslücken bei Adipositas

Sebastian Kruse

Politischer Geschäftsführer der Deutschen Adipositas-Geselleschaft (DAG)
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Um Adipositas einzudämmen und Folgeschäden zu vermeiden, ist ein besserer Zugang zur Therapie elementar. Wie diese idealerweise aussehen könnte, zeigt die aktualisierte S3-Leitlinie zur „Prävention und Therapie der Adipositas“.

Während Betroffene mit anderen chronischen Erkrankungen allerdings selbstverständlich Anspruch auf vielfältige Behandlungsangebote haben, ist das bei Adipositas noch nicht der Fall. Die Krankenkassen entscheiden aktuell selbst, ob sie Kosten für eine Ernährungs- oder Bewegungstherapie übernehmen. Andere Optionen wie begleitende Arzneimittel werden grundsätzlich nicht erstattet, da sie als Lifestyle-Medikamente gelten und diese per Gesetz von der Kostenübernahme ausgeschlossen sind. Dabei sind insbesondere in diesem Feld wichtige Innovationen entstanden, die die Therapie der Adipositas entschieden voranbringen könnten.

Zwar hat der Deutsche Bundestag mit dem Beschluss für ein „Disease-Management-Programm“ (DMP) die Adipositas als Erkrankung sowie die Unterversorgung anerkannt. Letztlich muss nun allerdings das beschlossene DMP konkret ausgehandelt und gestaltet werden, um die erheblichen Versorgungslücken zu schließen.


Reicht der BMI als Adipositas-Diagnose aus?

Barbara Bitzer in Businessoutfit

Prof. Dr. Matthias Blüher

Professor für klinische Adipositasforschung an der Universität Leipzig

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In einem im Januar 2025 erschienenen Paper schlägt eine internationale Kommission vor, den BMI um weitere Kriterien zu erweitern. Wir haben Prof. Blüher gebeten, uns eine kurze Einschätzung dazu zu geben.

Adipositas ist eine chronisch fortschreitende Erkrankung, die zu erheblichen Einschränkungen der Lebensqualität und zahlreichen Folgeerkrankungen führen kann. Die bisherige Definition über den Body-Mass-Index allein wird der Komplexität der Erkrankung und ihrer Ursachen nicht gerecht. Deshalb hat die Kommission versucht, differenziertere Kriterien für die Diagnose der Adipositas vorzuschlagen. Dieser Ansatz ist nicht neu, aber immer noch aktuell, da der Bedarf für eine bessere und Schweregrad-bezogene Therapie auch in Deutschland immer noch sehr hoch ist. Ich hoffe, dass die Arbeit der Kommission dazu führen wird, die Diskussion zur Prävention und Verbesserung der Therapie der Adipositas intensiver zu führen.

Mehr zur Definition von Adipositas gibt es im Forschungsstand
Zum erwähnten Paper im The Lancet: Rubino et al. (2025): Definition and diagnostic criteria of clinical obesity


Werbebeschränkungen, Qualitätsstandards, Steuern

Barbara Bitzer in Businessoutfit

Barbara Bitzer

Sprecherin der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK) und Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft

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Aus Sicht der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK) ist ein umfassendes Maßnahmenpaket erforderlich, um die Verhältnisprävention im Bereich Adipositas gezielt zu stärken. Dazu zählen Werbebeschränkungen für ungesunde Lebensmittel, eine Herstellerabgabe auf zuckergesüßte Getränke, die Einführung von Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung für die Verpflegung in Kitas und Schulen, eine verbindliche Nutri-Score-Kennzeichnung sowie eine Reform der Mehrwertsteuer.

Die Bundesregierung sollte die Mehrwertsteuer für gesunde Lebensmittel wie Gemüse, Obst und Hülsenfrüchte auf null Prozent senken und gleichzeitig die Hersteller von überzuckerten Getränken stärker in die Verantwortung nehmen. Süße Softdrinks sind ein wesentlicher Treiber für Adipositas und Diabetes. Laut DANK braucht es wirksame Anreize, um den Zuckergehalt solcher Produkte drastisch zu reduzieren.

Im Bereich Werbung fordert DANK unter anderem eine Bannmeile um Kitas, Schulen und Spielplätze, in der keine Werbung für Süßigkeiten oder gezuckerte Getränke erlaubt ist. Ergänzend plädiert DANK für zeitliche Beschränkungen solcher Werbung in Fernsehen, Radio und auf Social-Media-Plattformen.


Die gesetzlichen Krankenkassen setzen auf Präventionsmaßnahmen und Schulungen

GKV (Gesetzliche Krankenversicherung) – Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen

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Die gesetzlichen Krankenkassen engagieren sich beim Thema Adipositas seit Jahren im Bereich der Prävention, etwa in Form von Kursen zur Vermeidung und Reduktion von Übergewicht, Stressbewältigung sowie Maßnahmen zu Ernährung und Bewegung. Der Fokus liegt auf dem unmittelbaren Lebensraum der Menschen: Das können etwa das eigene Stadtviertel, Kindertagesstätten oder Schulen sein.

Darüber hinaus können Krankenkassen wirksame und effiziente Patientenschulungsmaßnahmen für chronisch Kranke erbringen. Unter welchen Voraussetzungen Patientenschulungsmaßnahmen erbracht werden können, ist im Kontext von Adipositas in den „Gemeinsamen Empfehlungen zur Förderung und Durchführung von Patientenschulungen für behandlungsbedürftige adipöse Erwachsene“ bzw. den entsprechenden Empfehlungen für Patientenschulungen für behandlungsbedürftige adipöse Kinder und Jugendliche geregelt.

Bei Adipositas können auch psychotherapeutische Behandlungen in Frage kommen, diese müssen generell beantragt werden. Die Kasse entscheidet dann aufgrund der eingereichten Unterlagen des Psychotherapeuten und des überweisenden Arztes – es handelt sich also immer um Einzelfallentscheidungen.


Noch viele Lücken in der Versorgung von Adipositas-Erkrankten

Barbara Bitzer in Businessoutfit

Michael Wirtz

AdipositasHilfe Deutschland e.V

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Wir setzen uns vor allem für Patientenrecht und eine bessere Versorgung ein. Mit dem strukturierten Behandlungsprogramm (DMP) Adipositas hat man nun erreicht, dass Menschen mit Adipositas eine Behandlung erhalten, sofern es Verträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern geben wird. Allerdings gibt es bei der beginnenden Adipositas gravierende Einschlusskriterien, die einen frühen Behandlungseinstieg verbieten.

Adipositas gilt zwar offiziell als chronische Krankheit, allerdings spiegelt sich das noch nicht in umfassenden Therapiemöglichkeiten, die durch die Kassen übernommen werden. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass der Kampf gegen Adipositas in unserem medizinischen System aus Kostengründen recht halbherzig geführt wird.

Trotz aller Euphorie über das DMP fehlt noch immer die individuelle Ernährungsberatung durch Ernährungsfachkräfte als Kassenleistung, obwohl es breiter Konsens ist, dass eine frühzeitige und individuelle Ernährungsberatung viel verhindern kann. Ein niedrigschwelliges Angebot fehlt im DMP Adipositas gänzlich. Auch der Übergang der Jugendlichen in das DMP für Erwachsene ist völlig unzureichend geregelt.

In der medikamentösen Therapie mit der sogenannten Abnehmspritze ist aus unserer Sicht eine Begleitung durch eine Ernährungsfachkraft unabdingbar, um zum Beispiel einer Mangelernährung vorzubeugen. Aktuell stehen die Betroffenen in dieser Therapieform allein da und erfahren wenig Unterstützung.

Body-Positivity: Aktivisten streiten für ein anderes Körperbild

Die Bewegung kommt aus den USA, gespeist aus Ideen von Bürgerrechtlern, Feministinnen, Demokratievereinen: keine Diskriminierung wegen körperlicher Merkmale. Speckrollen, Hängebusen, Haare an den Beinen, Krampfadern sollen nicht als Makel, sondern schlicht als real wahrgenommen werden. Speziell gegen die Diskriminierung von Übergewicht richtet sich die sogenannte Fat-Acceptance-Bewegung, die ebenfalls aus den USA stammt. Sie plädiert für Körperakzeptanz, Selbstliebe und das Abbilden fülliger bis fetter Körper als Normalität in Gesellschaft und Medien. Ihre Aktivisten sprechen sich auch dafür aus, Studien zu Übergewicht anders zu bewerten: Auch starkes Übergewicht habe nicht zwangsweise schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit, die Forschungslage sei umstritten. Dieser Behauptung widersprechen wissenschaftliche Fachverbände, darunter die Deutsche Gesellschaft für Adipositas (DAG), aber auch die Betroffenenorganisation AdipositasHilfe Deutschland e.V.: Die Studienlage ist eindeutig, die Evidenz für Folgeschäden und -erkrankungen bei Adipositas überwältigend; Krankheitslast und der Leidensdruck der Betroffenen dürfen nicht geschönt werden.

Persönliche Auskunft von Michael Wirtz von der AdipositasHilfe Deutschland e.V. und Professor Dr. med. Jens Aberle, ehemaliger Präsident der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG), für den Ernährungsradar, DAG-Kongress am 6.10.2022 in München.


„Happy Obese – sind Menschen mit Adipositas wirklich glücklich?“

Prof. Dr. Martina de Zwaan

Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychiatrie,
Klinikleiterin an der Medizinischen Hochschule Hannover
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„Das Klischee vom lustigen Dicken ist immer noch weit verbreitet, doch als Fachärztin für Psychosomatik muss ich sagen: Nein, Menschen mit Adipositas sind oft nicht glücklich – sie sind sogar weniger glücklich als andere. Schließlich ist die Adipositas mit über 60 anderen Erkrankungen assoziiert. Darunter sind auch psychische Erkrankungen, die die Lebensqualität vermindern und einen negativen Einfluss auf den Gewichtsverlauf nehmen können.

Bei jedem dritten Teilnehmer an einem Gewichtsreduktionsprogramm kann eine Essstörung diagnostiziert werden. Vor allem das schubweise Essen großer Mengen, die sogenannte Binge-Eating-Störung, ist häufig. Sie ist durch regelmäßige Essanfälle gekennzeichnet, bei denen die Betroffenen das Gefühl haben, nicht kontrollieren zu können, was und wie viel sie essen. Eine Binge-Eating-Störung sollte von Fachleuten psychotherapeutisch behandelt werden, da sie selten von selbst vergeht.

Auch leiden Menschen mit Adipositas häufiger an Depressionen als die Allgemeinbevölkerung. Und wenn man niedergeschlagen und antriebslos ist, fällt es natürlich schwer, auch noch die Ernährung umzustellen oder sich zum Sport aufzuraffen. Bei Depressionen ist daher ebenfalls die Behandlung durch Psychosomatiker, Psychiater oder Psychologen notwendig.

Menschen mit Adipositas sind zudem häufig impulsiv, das heißt, sie können Antriebe schlechter steuern. Zum Teil ist das angeboren, man spricht dann von Temperament. Doch diese Neigung kann sich auch durch ungünstige Lebensumstände, etwa in der Kindheit, entwickeln. Und natürlich beeinflusst das die Therapie: Mangelnde Impulskontrolle macht es den Betroffenen schwer, Ratschläge umzusetzen und ihren Lebensstil zu ändern. Ohnehin hat nicht jeder Mensch dasselbe Ausmaß an Selbstkontrolle, Temperamentunterschiede sind dabei entscheidend. Hier bedarf es einer besonderen psychotherapeutischen Unterstützung.“

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Titelbild: milatas/stock.adobe.com


Stand: Januar 2025

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